Kapitel 2:
Preis ist nicht Wert und genau hier beginnt dein Vorteil
„Der Preis ist das, was man bezahlt. Der Wert ist das, was man bekommt.“ Dieser Satz klingt banal, aber er ist der Unterschied zwischen Investieren und emotionalem Herumstochern. An der Börse siehst du nämlich rund um die Uhr nur Preise. Zahlen blinken, Kurse springen, News schreien. Und weil das so präsent ist, glauben viele automatisch, der Kurs wäre die Wahrheit über ein Unternehmen. Ist er nicht. Der Kurs ist nur die letzte Transaktion zwischen zwei Menschen, die gerade unterschiedlicher Meinung waren. Mehr nicht.
Das Absurde daran ist: Im echten Leben würden wir so niemals kaufen. Niemand kauft ein Haus, nur weil es heute 8 Prozent teurer ist als gestern. Niemand kauft ein Auto, nur weil der Verkäufer lauter schreit. Bei Aktien machen wir aber genau das ständig, weil der Markt uns in einen Dauerzustand der Bewegung versetzt. Und Bewegung fühlt sich an wie Bedeutung. Ist es aber nicht.
Genau deshalb brauchst du eine rationale Bezugsgröße. Einen Anker. Eine Zahl oder zumindest eine Bandbreite, die dir sagt, ob du dich gerade in einem Bereich bewegst, der realistisch ist, oder ob du gerade Fantasie kaufst. Fair Value ist genau dieser Anker. Nicht als perfekte „Wahrheitszahl“, sondern als Orientierung, die dir hilft, Preis und Wert auseinanderzuhalten.
Denn wenn du den Wert nicht kennst, bleibt dir als Entscheidungsgrundlage fast nur Emotion. Dann kaufst du, weil du Angst hast, etwas zu verpassen. Oder du verkaufst, weil du Angst hast, dass es noch schlimmer wird. Oder du hältst, weil du hoffst, dass die Aktie wieder steigt. Und Hoffnung ist an der Börse ein schlechter Berater. Sie fühlt sich warm an, lässt dich aber im Kalten stehen.
Der Fairvalue-Calculator macht etwas sehr Einfaches: Er zwingt dich, vor dem Kauf kurz stehenzubleiben und dir eine klare Frage zu stellen: Ist dieses Unternehmen zu diesem Preis attraktiv oder nicht. Und was müsste passieren, damit dieser Preis „fair“ wäre. Wenn du diese Frage einmal wirklich ernst nimmst, wirst du automatisch ruhiger. Weil du nicht mehr jedem Zucken am Chart hinterherläufst. Du siehst Kursbewegungen dann nicht mehr als Befehl, sondern als Angebot.
Und jetzt kommt der praktische Teil. Viele tun so, als wäre Bewertung nur etwas für Analysten mit Excel-Orgien. Das ist Blödsinn. Du brauchst keine 30 Kennzahlen, um die Richtung zu verstehen. Du brauchst einen simplen Einstieg. Genau deshalb gibt es den manuellen Fair-Value-Rechner als extrem einfache Version, die mit zwei Kennzahlen arbeitet: EPS und Wachstum.
EPS ist der Gewinn je Aktie. Für den Einstieg reicht dir das letzte veröffentlichte EPS. Und wenn du es sauber machen willst, nimmst du das verwässerte EPS, weil das realistischer ist. Wachstum ist im Kern die Frage: Wie stark wächst das Unternehmen. In der einfachen Version kannst du das über das Umsatzwachstum abschätzen. Wenn der Umsatz gegenüber dem Vorjahr zum Beispiel um 10 Prozent gestiegen ist, kannst du als grobe Annäherung mit 10 Prozent Wachstum arbeiten.
Das Schöne daran ist: Du bekommst damit sofort ein Gefühl für Zusammenhänge. Aber du lernst dabei auch sofort die nächste wichtige Wahrheit: EPS und Wachstum verhalten sich in der Realität nicht brav wie in einem Schulbuch. Ein Unternehmen kann stark wachsen, aber gerade wenig Gewinn ausweisen. Ein anderes Unternehmen kann hohe Gewinne zeigen, aber kaum noch wachsen. Wenn du diese beiden Werte blind eingibst, kann das Bild verzerrt werden. Nicht, weil die Methode „falsch“ ist, sondern weil du mit zwei Zahlen eben nur eine grobe Näherung baust. Der Sinn ist nicht, eine perfekte Welt zu simulieren. Der Sinn ist, dir einen rationalen Startpunkt zu geben, statt nach Bauchgefühl zu investieren.
Und hier kommt eine Regel, die ich absichtlich hart formuliere, weil sie so viele Fehler verhindert: Wenn du unrealistische Werte eingibst, wirst du vom Investor zum Spekulanten. Punkt. Deshalb gibt es Grenzen, die du einhalten solltest. Beim EPS zum Beispiel macht es keinen Sinn, Fantasiezahlen einzugeben, die in der Praxis kaum vorkommen. Wenn du das tust, fühlst du dich vielleicht kurz gut, weil dein Ergebnis schöner aussieht, aber du baust dir damit ein Märchen. Und Märchen sind nett am Abend, aber nicht im Depot.
Dasselbe gilt für Wachstum. Wachstum ist kein Wunschkonzert. Natürlich kann ein Unternehmen einmal ein extrem gutes Jahr haben, aber wenn du dauerhaft mit utopischen Wachstumsraten rechnest, kaufst du am Ende nicht mehr Unternehmen, sondern Hoffnung. Und genau deshalb ist das Fair-Value-Denken so hilfreich, weil es dich wieder auf den Boden holt. Du machst aus „Ich glaube, das wird schon“ ein „Ich prüfe, ob das realistisch ist“.
Wenn du diese Basis einmal verstanden hast, passiert etwas Interessantes: Du beginnst automatisch, den Markt als das zu sehen, was er ist. Eine virtuelle Wertewelt, in der Preise oft weit von der Realität abweichen. Und manchmal ist das sogar kollektiv. Es gibt Phasen, da ist der gesamte Markt teuer. Nicht ein bisschen, sondern deutlich. Und genau in solchen Phasen ist Fair Value nicht nur „nice to have“, sondern wie ein Sicherheitsgurt.
Warum? Weil ein teurer Markt sich oft trotzdem noch monatelang oder jahrelang weiter hochschaukeln kann. Das ist das Gemeine! Wenn alles heiß läuft, fühlt sich Vernunft plötzlich wie ein Fehler an. Du schaust anderen beim Gewinnen zu und denkst dir: „Bin ich der Einzige, der das komisch findet.“ Und dann machen Menschen genau das, was sie nicht sollten. Sie werden spät mutig und früh panisch. Kaufen oben, verkaufen unten. Der Klassiker…
Deshalb ist es so wichtig, nicht nur einzelne Aktien zu bewerten, sondern auch den Markt als Ganzes einzuordnen. Wenn du weißt, dass der Markt gerade überhitzt ist, wirst du automatisch vorsichtiger. Du wirst selektiver. Du wirst geduldiger. Du suchst nicht „irgendeine Aktie“, sondern gezielt jene, bei denen der innere Wert klar über dem Preis liegt. Und ja, nach der nächsten Krise wird es wieder viel einfacher, solche Chancen zu finden. Nach Krisen ist plötzlich überall „Ausverkauf“. Vor Krisen sind plötzlich überall „Genies“. Deshalb schadet es nie etwas Geld an der Seitenlinie zu parken. Wie viel sagt dir dabei der Fairvalue-Calculator in der Marktanalyse.
Jetzt kommt der Satz, den viele nicht mögen, weil er so unsexy ist, aber er stimmt: Der beste Zeitpunkt, um langfristig mit Investieren zu beginnen, ist immer jetzt. Nicht weil der Markt heute günstig wäre, sondern weil du Zeit brauchst. Weil Zeit der Faktor ist, der dir die Volatilität (Schwankung) glättet. Und weil du nicht warten willst, bis du dich „sicher fühlst“, denn genau dann ist meistens schon ein großer Teil der Bewegung vorbei. Der Punkt ist nur: Wenn der Markt teuer ist, gehst du nicht blind rein. Du gehst strukturiert rein. Du kaufst nicht alles, du kaufst das Richtige. Oder du baust Positionen schrittweise auf und behältst Pulver trocken, statt dich selbst zu überfordern.
Und genau da schließt sich der Kreis zu Fair Value. Fair Value ist nicht dazu da, den perfekten Tiefpunkt zu treffen. Fair Value ist dazu da, dir eine nachvollziehbare Logik zu geben, wann eine Aktie in einem Bereich ist, der Sinn ergibt. Unterbewertet, fair bewertet oder überbewertet. Diese drei Zonen sind wie Verkehrszeichen. Du kannst sie ignorieren, aber du wirst früher oder später merken, warum sie da sind.
In den nächsten Kapiteln bauen wir darauf auf. Wir gehen von „Preis vs Wert“ zu einem klaren Vorgehen. Wie du die Zahlen besser und sauberer ermittelst, wie du Ausreißer glättest, wie du dich nicht von einzelnen Kennzahlen täuschen lässt, und wie du aus einem reinen Fair-Value-Gedanken ein System machst, das im Alltag funktioniert.